PEDRO GILGER (1845 - 1929)
etwa zur Zeit des Interviews
Hundert Jahre nach der Einrichtung der deutschen Kolonie von Santo Amaro bei São Paulo in Brasilien wusste niemand mehr genau, wo die Ansiedler hergekommen waren, vielleicht fragte auch niemand mehr danach, so dass es in Vergessenheit geriet. 1928 organisierte Alfred NOHEL, Schulleiter der damaligen deutschen Schule in São Paulo, eine Jahrhundertfeier der Kolonie und veröffentlichte zeitgleich eine Artikelserie zu diesem Thema in der damals in São Paulo erscheinenden deutschen Zeitung „Germania“. Der Autor bemühte sich, den Dialekt, den er von seinem Interviewpartner, dem hochbetagten Peter GILGER hörte, einigermaßen lautsprachlich zu Papier zu bringen und verwendete dazu eine Mischform aus schriftsprachlichen Konventionen und der Abbildung gehörter mundartlicher Laute durch möglichst ähnlich klingende Buchstabenkombinationen. Er glaubte, da er es nicht besser wusste, "Badenser" Dialekt zu hören. Allerdings lässt sich an den wenigen mundartlich aufgezeichneten Sätzen des Interviews leicht die Herkunft der Familie erkennen, wenn man die regionalen Mundartvarianten und Sprachgrenzen in der Pfalz kennt oder die entsprechenden Mundartkarten im Pfälzischen Geschichtsatlas zu Rate zieht. Doch lesen Sie selbst diesen sprachlich und kulturell interessanten Auszug aus dem Artikel von 1928:
"... Heute sind übrigens so gut wie alle Nachkommen der ersten deutschen Kolonisten katholisch. Dies ist nur darauf zurückzuführen, dass die alte Heimat ihrer fast ganz vergessen und die evangelische Kirche sie ohne Geistliche gelassen hat. In Rio Grande do Sul ist schon 1824 mit dem ersten Kolonistentransport ein Pastor mitgekommen. Dort hat sich daher bis auf den heutigen Tag die evangelische Kirche erhalten. In Santo Amaro aber, wo man die armen Menschen ganz ihrem Schicksale überlassen hat, ist der evangelische Glauben untergegangen.
Interessant ist es, wenn man diesbezüglich den 86jährigen Peter GILGER, einen Sohn des alten Johannes GILGER, der schon 1827 nach Brasilien (1) gekommen ist, sprechen hört. Peter GILGER, der in Santo Amaro lebt und unter dem Namen Pedro Sapateiro bekannt ist, weil sein Vater Schuhmacher war, arbeitete bis zu seinem 36. Lebensjahre (2) bei seinem Vater auf dem Sítio (3), das seitwärts der alten Kolonie in der Nähe des berühmten Kampfriedhofes liegt und heute noch den GILGERS gehört. Hier wurde nur Badenser Mundart gesprochen, sodass Peter GILGER, der nicht Portugiesisch verstand, als er 1873 nach Santo Amaro übersiedelte und am Largo 13 de Maio in dem Hause, in dem sich heute die deutsche Bäckerei des Herrn Paul GRASSMANN befindet, einen Laden mit „Seccos e Molhados“(4) eröffnete. 30 Jahre lang betrieb er nun hier dies Geschäft. Während dieser Zeit eignete er sich nicht nur die portugiesische Sprache an, sondern vergass auch immer mehr die Mundart seiner Väter. Höchst interessant ist es daher heute, sich mit dem alten Mann zu unterhalten. Meistens spricht er portugiesisch. Wenn er aber dann ab und zu in den badenser Dialekt verfällt, ist es, als ob die Kindheit in dem Greis wieder erwachte, und seine Augen beginnen zu leuchten.
„Sind Sie katholisch, Herr GILGER?“
„Mir worn lutherisch, se han uns ober dann ä de Kärche katholisch getäft. Ja, ja - mir wäss gor nie wie schnell dos kummt.“
Mehr war aus dem guten Alten über diesen Punkt nicht herauszubekommen. Ueber seine Mutter erzählte er, dass er sie schon als Kind verloren habe. Das stimmt auch mit den Akten überein, aus denen hervorgeht, dass sein Vater Johannes GILGER, Schuhmacher und Landwirt, mit 46 Jahren schon Witwer war.
Pedro Sapateiro hinkt. Auf die Frage, was mit seinem Bein geschehen sei, erzählt er, dass er es sich vor etwa 26 Jahren gebrochen habe und „seitdam wells nie mehr recht wäre. Dr Fuss is a besl kerzr (kürzer). Ae Johr han ech gele(g)en em Bett no Capivari no fundo do sertão (5)“. Auf diese Art, 2/3 portugiesisch, 1/3 badenser Mundart wickelte sich die Unterredung ab
„Und wer war Ihre Frau?“
„Ae Felispina GOTTFRIED. Ich wor nur ämol verheiert un mir hotten nein Kender (6). Mei Weib es schon 10 Johr tot, se wor bei 60.“
In der Tat befindet sich auf dem Friedhof von Santo Amaro ein Grabstein mit der Aufschrift : „Felisbina GOTSFRITT, geboren 1855 und gestorben 1916". Diese Daten würden ungefähr mit den Angaben des alten Peter GILGER übereinstimmen (7). Seine Nachkommen, die sich GUILGER schreiben, sprechen längst kein deutsch mehr. Um den 86jährigen hellblonden Grossvater bzw. Urgrossvater spielen schwarzäugige und mulattenfärbige Enkel und Urenkel, nach deren Gesichtern niemand schliessen könnte, dass deutsches Blut in ihren Adern fliesst.
100 Jahre! Wie kurz, und doch wie viel ist hier anders geworden. Die Sprache der Väter ist vergessen; der alte evangelische Glauben versunken. Tempora mutantur e nos mutamos in illis. So bildet sich die brasilianische Nation. - ....."
Soweit der Artikel des Alfred Nohel. Schön, dass er versucht hat, die Antworten seines Interview-Partners abweichend von der Hochsprache so niederzuschreiben, wie er sie gehört zu haben meint. Daraus lassen sich nämlich eindeutige Rückschlüsse auf die Herkunft des Sprechers ziehen. Schon der erste Satz weist den alten Peter Gilger als Pfälzer aus, denn bekanntlich geht "in de Palz de Parre mit de Peif in die Kärch". Das überflüssige "e" scheint eher ein Zugeständnis an die Schriftsprache seitens des Nichtpfälzers Nohel zu sein als ein wirklich gehörter Laut und das "ä" statt "in" mag durch das portugiesische "em" (= in) zu erklären sein, da Peter Gilger im Alter fast nur noch Portugiesisch verwendete. Ebenfalls schon in seiner ersten Äußerung wird klar, dass es sich bei dem Sprecher um einen Westpfälzer handeln muss, denn "mir han" schließt den Vorderpfälzer aus. Des weiteren muss diese Sprachvariante von westlich der Lauter kommen, denn dort verläuft die Grenze zwischen "mir han / mir hun". Am verräterischsten aber ist das Wort "getäft", welches zusammen mit dem "kummt" auf den Landstrich zwischen Lauterecken und Kusel, das Essweiler Tal hinweist. Weiter nördlich, Richtung Mainz hin, wo auch der Umlaut "au" als langes "ä" oder "ee" realisiert wird, hieße es "kimmt", nicht "kummt". Auch das zu e geöffnete "ech" statt "ich" und "es" statt "ist" grenzen diese wenigen niedergeschriebenen Mundart-Sätze weiter auf den Westrich ein.
Zieht man also, ohne zu wissen, wo der Sprecher beheimatet war, nur die Mundart als Herkunftsindikator zu Rate, so wird man den Pedro Gilger klar der Westpfalz, und dort dem Essweiler Tal zuordnen, nicht etwa Baden. Doch Pedro Gilger war nie in der Pfalz, er verbrachte sein ganzes Leben in der Kolonie von Santo Amaro bzw. in der Umgebung von São Paulo. Es war trotzdem unverkennbar seine Muttersprache, weil seine Mutter aus Elzweiler kam und sein Vater aus Essweiler und weil er fast ausschließlich unter Westpfälzer Auswanderern und deren Kindern aufwuchs und dort keine brasilianische Schule existierte. Auch konnte man mit den Hunsrücker Kolonisten, die sich dort angesiedelt hatten, problemlos in dieser Mundart kommunizieren. Die Kolonie war weit genug von Santo Amaro entfernt, um zwei oder drei Generationen lang eine Sprachinsel zu bleiben, auf der hauptsächlich diese Westricher Variante des Pfälzischen gesprochen wurde, weil dort die meisten der 1827 heimlich ausgewanderten Pfälzer aus dem Raum Kusel lebten und unter sich blieben.
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Anmerkungen:
Die Schreibweise der „Germania“, einer Zeitung, die es schon lange nicht mehr gibt, wurde beibehalten, ungeachtet eventueller falscher Orthographie. Der Text wurde mir zur Verfügung gestellt von Frau Hildegard Werle-Fauser, São Paulo.
(1) Zum Zeitpunkt des Interviews 1928 war Peter GILGER ausweislich seines Taufeintrags erst 83 Jahre alt (er war am 20.3.1845 geboren). Sein Vater reiste 1827 ab und kam 1828 nach Brasilien. Pedro starb am 10.12.1929 im Alter von 84 Jahren in Santo Amaro. Sein Sohn José GUILGER Sobrinho war 1914 Bürgermeister (Prefeito Municipal), als der Ort noch nicht in São Paulo eingemeindet war.
(2) Diese Altersangabe dürfte zu hoch sein, da der Autor das wahre Alter von Pedro GILGER um 3 Jahre zu hoch eingeschätzt hatte. Pedro heiratete 1876 mit 31.
(3) Sítio : Landgut, Bauernhof
(4) "secos e molhados" : Trocken- und Nasswaren ( = Gemischtwarenladen).
(5) " in Capivari in der tiefsten Wildnis."
(6) Ausweislich des Kirchenbuches von Santo Amaro waren es 10 Kinder; eines starb allerdings drei Wochen nach der Geburt.
(7) Philippina GOTTFRIED (25.4.1855 - 28.1.1916), war die Tochter von Christian GOTTFRIED (*1826 Rammelsbach) und Catharina REIMBERGER = RHEINBERGER (*1830), sie war väterlicherseits eine Enkelin von Christian GOTTFRIED (*1796) und Catharina RÜBEL (*1796) aus Rammelsbach, und mütterlicherseits Enkelin von Adam RHEINBERGER (*1809 Erdesbach) und Catharina HAESEL (*1809 Ulmet), Urenkelin von Peter HAESEL (*1781 Ulmet) und Philippina GILCHER (*1784 Rathsweiler) .